Franziska Steiof war eine der renommiertesten Regisseurinnen und Autorinnen in den letzten 20 Jahren im deutschsprachigen Theater, unter anderem arbeitete sie am GRIPS Theater, am Theater Kiel, am Düsseldorfer Schauspielhaus und am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Auch in der Freien Szene hatte sie, vor allem auch dank ihrer Arbeit mit der Theatergruppe »DeichArt«, einen Namen. Ein wichtiger Schwerpunkt ihrer Arbeit war das Inszenieren und Schreiben neuer Kinder- und Jugendstücke.
Seit 2000 führte Franziska Steiof regelmäßig am GRIPS Theater Regie, darüber hinaus schrieb sie gemeinsam mit Volker Ludwig die Stücke »Baden gehn« und »Rosa«. »Nellie Goodbye« und »So lonely« wurden mit dem »IKARUS Theaterpreis« ausgezeichnet, zahlreiche ihrer Inszenierungen wurden zu nationalen und internationalen Festivals eingeladen. Zuletzt brachte sie am GRIPS Theater mit sehr großem Erfolg das Stück »Die letzte Kommune« (von Lund/Zaufke) auf die Bühne. Im GRIPS Theater sind außerdem ihre Inszenierungen »So lonely« und »Die fabelhaften Millibillies« im aktuellen Repertoire zu sehen.
Franziska Steiof hat sich entschieden, am 23. Januar 2014 aus dem Leben zu gehen.
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Ich mach’ Licht für dich
Sie gab dem Kinder- und Jugendtheater große Kraft. Eine Erinnerung an Franziska Steiof.
von Stefan Fischer-Fels
Franziska Steiof war eine Persönlichkeit voller Extreme. Ich denke an sie – an einen unglaublich herzlichen, warmen, charmanten, belesenen Menschen mit unschlagbarem norddeutschen Humor. Menschen, denen sie sich verbunden fühlte, erlebten Zugewandtheit und Neugier, Offenheit und klugen Rat noch in den kompliziertesten persönlichen Fragen. Ich bin für dich da, das vermittelte sie ohne Aufdringlichkeit. Schauspieler, Dramaturgen, Theaterleiter, so viele Kollegen können davon Loblieder singen.
Die Begegnung mit ihr forderte von jedem Gesprächspartner volle Präsenz, keine Ausflüchte, ernsthafte Auseinandersetzung, Haltung, Standpunkt, Entschiedenheit.
Eine beeindruckende Professionalität im Theaterbetrieb kommt hinzu: Selten war jemand so perfekt vorbereitet, so gut organisiert, so souverän im Moderieren von Konflikten, so genau im Lesen der Texte, so entschieden im Zugriff – und gleichzeitig nach allen Seiten offen und vermittelnd. Sie gründete mit ihrem Ensemble Theaterfamilien auf Zeit, wie ich selten stärkere kennenlernen durfte.
Im Jahr 2000 inszenierte sie zum ersten Mal am Grips Theater: »David und Lisa«, die Geschichte eines hochbegabten Jungen in der Psychiatrie. Sie hat die Darsteller zu einer musikalischen Leichtigkeit und Klarheit des Spiels gebracht, die dem Grips-Stil eine neue Dimension hinzufügte. Seitdem hat sie acht weitere Inszenierungen am Grips herausgebracht, darunter »norway.today«, »Baden gehn« und »Rosa«. Sie inszenierte Lutz Hübners Jugendstück »Nellie Goodbye« und erhielt dafür den Theaterpreis Ikarus ebenso wie für die grandiose Adaption des Jugendromans »So lonely« im Jahr 2011. Diese Inszenierung steht momentan auf dem Spielplan des Grips Theaters wie auch das musikalische Kinderstück »Die fabelhaften Millibillies« und Peter Lunds Generationenkomödie »Die letzte Kommune«, das im September 2013 eine umjubelte Premiere feierte.
In dieser Inszenierung, ihrer letzten am Grips Theater, soll ein alter Mann ins Heim abgeschoben werden. Stattdessen gründet er noch einmal eine Kommune, wie früher, aber ganz anders, denn es wird eine Mehr-Generationen-WG. Ein WG-Mitglied, die 77-jährige Josi, merkt, dass die Demenz mehr und mehr von ihr Besitz ergreift und wählt den Freitod. Diese Szene wurde im Ensemble heftig diskutiert: Darf man über das Ende des eigenen Lebens selbst bestimmen? Franziska Steiof verteidigte vehement die autonome Entscheidung der Figur und setzte sich durch.
Wie im Leben, so suchte sie in der Kunst die existentielle Auseinandersetzung, sie fand es selbstverständlich, dem Zuschauer im Theater etwas zuzumuten, sie wusste, auch aus eigener Anschauung, dass das Leben von Kindern nur in den seltensten Fällen einem Paradiesgarten gleicht. Sie sorgte sich immer darum, den Zuschauer bei seinen Erfahrungen, Träumen und Abgründen anzusprechen und ästhetisch herauszufordern. Man könnte ihren Stil am besten als »poetischen Realismus« beschreiben, dem immer eine große Leichtigkeit anhaftete. Sie glaubte an die politische Dimension des Theaters, insbesondere des Kinder- und Jugendtheaters, an die Veränderbarkeit der Welt und die Möglichkeit einzugreifen. Sie liebte am Kinder- und Jugendtheater die Unmöglichkeit zu lügen: Ihr war bewusst, dass Kinder und Jugendliche die Lüge schneller bemerken und gnadenloser bestrafen würden als Erwachsene.
Als Autorin tritt Franziska Steiof ebenfalls nachhaltig in Erscheinung. Zu ihren schönsten Stücken gehört »Noah und der große Regen«, in dem sie Kinder ab vier Jahren behutsam und mit viel Humor mit auf die Reise nimmt zur Geschichte der Arche Noah. Unser gemeinsam entwickeltes Theaterstück »Undine, die kleine Meerjungfrau« war für den Deutschen Kindertheaterpreis und die Kinderstücke Mülheim 2010 nominiert.
Mit ihrer Freien Gruppe DeichArt in Kiel entstanden großartige, skurrile Kult-Abende mit Titeln wie »Schwitzende Männer im Schuhgeschäft«, mit Volker Ludwig entwickelte sie die Stücke »Baden gehn« und »Rosa«. Ihre intelligenten Klassikerbearbeitungen vom »Schimmelreiter« und »Michael Kohlhaas« werden vielfach nachgespielt. Franziska Steiofs Thema ist die Selbstbestimmung des Menschen, der mit seinem Schicksal ringt; ihre Helden kämpfen verzweifelt, hoffen, suchen die Freiheit und sind doch immer gebunden an die Erdenschwere.
In ihrer Fassung der »Schneekönigin«, die sie 2006 für das Junge Schauspielhaus Düsseldorf schrieb und inszenierte, heißt es im Schlusslied: »Wenn du frierst / Und verlierst / Denk dran, was dich wärmen kann / wenn nicht heute, irgendwann / Ich mach Licht für dich / Immer nur für dich.«
So viel Liebe, so viel Trost konnte sie anderen geben. Trost brauchen jetzt wir, Angehörige, Kollegen, Freunde, die sie so sehr geliebt haben. Wir sind fassungslos. Franziska Steiof hat sich entschieden, am 23. Januar 2014 aus dem Leben zu gehen.
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Erinnerungen an Franziska
von Volker Ludwig
»Sie ist einfach abgehauen, hat noch nicht mal tschüss gesagt«, singen Bambi und Kleister in der »Linie1«, und es gibt kaum einen im GRIPS, der sich nicht fühlt wie die Beiden, ratlos, wütend, alleingelassen.
Vor 14 Jahren haben wir Franziska ans GRIPS geholt, mit einem Stück ihrer Wahl, »David und Lisa«. Danach inszenierte sie »norway today«, das Selbstmord-Stück. Kurz darauf beschlossen Franziska und ich, gemeinsam ein Stück zu schreiben. Ein höchst leichtfertiges Unterfangen, aber es klappte ganz hervorragend: Wir verstanden uns nicht nur und hatten uns einfach gern, vom ersten bis zum letzten Tag, sondern wir hatten auch einen Heidenrespekt voreinander. Sie tolerierte meine Kalauer wie ich ihre Tiraden, und siehe, alles passte auf wundersame Weise zusammen, weil wir das Gleiche erzählen wollten. Das Stück hieß »Baden gehn«, spielte auf einer Wiese in einem Berliner Freibad ohne Wasser und war vier Jahre lang ausverkauft. Eine der schönsten GRIPS-Inszenierungen aller Zeiten.
In dem melancholischen Schluss-Song heißt es einmal: »Lass uns baden gehn | Leise rülpst das Abflussrohr | Unsre Runden drehn | Und dann singen wir im Chor | Das Leben ist schön...« Franziska machte aus dieser einen Zeile eine Beschwörung. Ganze acht mal hieß es: Ja - ! Ja - ! Das Leben ist schön! Und jeder auf der Bühne betonte auf seine individuelle Weise: Das Leben IST schön...
»Und sie sehnte sich so sehr | nach was ewig Wunderschönem | Doch wo kriegst´n sowas her« singen Bambi und Kleister in ihrem Nachruf. Franziska hat mich für mein scheinbares Geschick, mich bequem durchs Leben zu lavieren, mehrmals lauthals beneidet, hielt mich deswegen gar für ein Schlitzohr, was ich vielleicht gern wäre, aber gar nicht bin...
Zur Premiere von »Baden gehn« schenkte sie mir ihre alte zerlesene Rosa L. – Biographie von Frederik Hetman, »mein schönstes Buch über Rosa«, wie sie reinschrieb, glücklich, es wiedergefunden zu haben. Rosa Luxemburg, unser beider Leidenschaft. Und wir versprachen uns, irgendwann ein Stück über sie zu machen.
Fünf Jahre später war endlich die Premiere. Vorher hatte Franziska »Nelly good-bye« inszeniert, wieder ein Stück über den Tod. Die langwierige, teils qualvolle Arbeit an »Rosa« war nicht immer harmonisch. Konnte es nicht sein. Dazu ging es zu sehr ans Eingemachte. Wir wussten viel zu viel über Rosa, das Stück wurde zu lang, jeder versuchte, zu retten, was ihm besonders wichtig erschien – Franziska besonders ihr Lied, das Rosa mit zwei Freundinnen im Ringelreihn im Gefängnis sang: »Was mir fehlt, ist das Leben«. Was es für Franziska bedeutete, verstehe ich erst heute: »Was mir fehlt, ist das Leben | Ich hab solchen Hunger danach | Ich such es, ich jag es vergebens | Und lauf ihm doch immer nur nach«...
Neun mal hat Franziska im GRIPS inszeniert, wunderbar sensible, wahrhaftige, heitere Aufführungen von magischer Bildkraft. Ihre wunderbarste Arbeit, »So lonely«, ist neben der »letzten Kommune« und den »Fabelhaften Millibillies« immer noch auf dem Spielplan.
Franziska hat das GRIPS immer geliebt. Zum 40jährigen Bestehen hat sie GRIPS als Märchenreich beschrieben, in dem man vor allem eines lernt: Vertrauen. »Hier darf das Gute noch gewinnen«, schreibt sie, »ohne sich dafür zu schämen, darf sich das Böse noch in wechselnder Gestalt verirren und aufwachen, wenn es von der Prinzessin geküsst wird, darf die Hoffnung noch eine dicke Lippe riskieren, selbst wenn sie im Dreck liegt, darf der Tod gerne in ein anderes Reich schleichen, weil das Leben ihm frech ins Gesicht lacht.«
Als ich Franziska nach der Beerdigung von Helma Fehrmann, Urgestein der Roten Grütze, zum Bahnhof fuhr, sagte sie plötzlich, dass sie unbedingt mal meine Grabrede halten wolle und werde. Darüber habe ich mich außerordentlich gefreut. Jetzt stehe ich hier, 25 Jahre älter als sie, und weiß nicht, was ich sagen soll, außer: Sie hat ihr Versprechen einfach nicht gehalten.
Ihr Tod ist schlicht nicht in Ordnung. Er hat auch mit dem Theater überhaupt nichts zu tun.
Im Gegenteil. Hier hatte Franziska ihr Zuhause, ob in Berlin, Hamburg, Kiel oder Düsseldorf. Ihre jeweiligen Ensembles wurden zu Familien, und die jungen Schauspieler fühlten sich als ihre Kinder – sie hätte so gerne welche gehabt – , Kinder, die jetzt fassungslos vor einem 11stöckigen Abgrund stehen und nicht begreifen, warum grade sie, die immer für alle da war, sie so grausam verlassen hat. Ihr Tod ist eine Katastrophe, ein schrecklicher Verlust für mich, für uns alle, für die Zukunft unseres Theaters. Fast jeder ist ersetzbar, Franziska nicht.
Depression ist eine physische Krankheit, grausamer als Krebs, aber immer noch mit einem Tabu behaftet. Franziska hat unter ihr gelitten und nicht wirklich darüber gesprochen. Sie hat mit ihr weitergearbeitet, mit bescheuerter preußischer Disziplin, und sich nichts anmerken lassen. Sie, die jedem helfen konnte, ließ sich selber nicht helfen. Sie hielt durch, bis sie es auf einmal nicht mehr aushielt. Sie ging – ich kenne zwei andere souveräne Geister wie sie, die es ebenso machten – ,
sie ging, scheinbar spontan, in einem Augenblick, in dem keiner mit etwas Derartigem rechnen und in ihre selbstbestimmte Entscheidung hineinpfuschen konnte.
Jetzt hadern wir mit uns. Ob wir ihr, die besser als wir alles im Griff zu haben schien, hätten helfen können. Sie vielleicht zwingen, statt sich ausnutzen zu lassen, einmal nur an sich selbst zu denken. Genau das hat sie jetzt getan. Auf ihre Weise. Ob ihr auf Erden zu helfen war? Ich glaube schon. Wissen werden wir es nie.
Bambis und Kleisters Nachruf endet: »Wieder ist es etwas kälter. Manchmal kommt´s schon ganz schön hart. Aber einfach sich verpissen, das ist nicht die feine Art.«
Und dabei bleibe ich, liebste Franziska.